Die SRT-Arbeiten von Poincaré von 1905


Die prioritätssichernde Zusammenfassung vom 5. Juni 1905 enthielt alle wichtigen Resultate von Poincarés grosser SRT-Arbeit vom 23. Juli 1905. Weil diese Notiz in den Comptes rendus am 11. Juni 1905 erschien und die Comptes rendus damals eine der bekanntesten Zeitschriften überhaupt waren, ist es recht wahrscheinlich, dass auch Einstein und/oder seine Freunde diese Zeitschrift regelmässig nach Neuigkeiten absuchten. Wenn aber Poincaré zu einem derart brisanten Thema schrieb, ist es für mich schon fast unvorstellbar, dass Einstein oder z.B. sein Freund Besso das nicht gemerkt haben sollten. Die Dynamik des Elektrons war ja seit Kaufmanns Versuchen eines der zentralen physikalischen Probleme der Zeit, an dem auch Einstein gerade arbeitete. Ich kann mir sogar durchaus vorstellen, dass das regelmässige Absuchen einer damals derart angesehenen, wissenschaftlichen Zeitschrift nach Neuigkeiten zu seinen offiziellen Aufgaben am Patentamt gehörte.

Die grosse SRT-Arbeit vom Juli 1905 (erschienen am 2. März 1906 im Band 21 der Rendiconti del Circolo matematico di Palermo, der zum grössten Teil aus Beiträgen vom Juni 1905 bis Dezember 1905 besteht) ist zwar schwieriger zu lesen als Einsteins SRT-Arbeit, sie geht aber weit über Einstein hinaus, macht erstmals konkreten Gebrauch vom (Lorentz-)Kovarianzprinzip und erkennt die spezielle Lorentztransformation als Drehung im Poincaré/Minkowski-Raum. Poincaré erkennt auch, dass in der Lorentztheorie Längen durch Lichtlaufzeiten definiert/gemessen werden, weswegen er spätestens seit Mai 1905 in den Maxwellgleichungen c = 1 setzt. Schliesslich zeigt Poincaré, dass eine lorentzkovariante Gravitationstheorie trotz der alten Laplace-Forderung nach einer sehr hohen Gravitationsgeschwindigkeit (>> c) mit den astronomischen Beobachtungen verträglich sein könn(t)e, da die Abweichungen von Newton - wegen der Lorentzkovarianz - von zweiter Ordnung in v/c klein seien; nach Laplace/Newton sind die Abweichungen von erster Ordnung klein, weswegen die Abweichungen unter diesen Annahmen nur durch eine sehr hohe Gravitationsgeschwindigkeit genügend klein gehalten werden können, um nicht mit den Beobachtugen in Widerspruch zu geraten.